Wut und Aggression sind Teil unseres Lebens. Wir brauchen sie, um uns zu verteidigen, im schlimmsten Fall um die eigene Haut zu retten. Das ist im Regelfall keine bewusste und oft noch nicht einmal eine sinnvolle Reaktion. Sie hat einfach damit zu tun, dass sich jemand bedroht fühlt.
Ob jemand in einer Situation eher aggressiv oder ängstlich reagiert, hat viel mit dem Alter, dem Geschlecht oder der Frage zu tun, ob die eigenen Kinder und Angehörigen bedroht sind. Viele der geflohenen Menschen haben solche Bedrohungssituationen erlebt, sind angegriffen worden, haben Freunde und Liebste verloren. In solchen Situationen erscheinen Wut, Kampf und Aggression passend, in einer sicheren Situation kommen sie uns unangemessen vor.
Doch es ist wie mit der Angst: Das unverarbeitete Gefühl taucht beim geringsten Anlass wieder auf - ob es nun passt oder nicht. Alte Wut ist wachsam und bereit, sucht sich ein Ventil.
Sie haben sich zuhause mit Ihrem halbwüchsigen Sohn gestritten, Alltag. Aber heute kam dazu, dass Sie in Hektik waren und noch beim Arzt vorbei mussten. Nun stehen Sie dem Typ gegenüber, der schon wieder nachfragt, wann er den Termin mit der Sozialarbeiterin haben kann. Eigentlich mögen Sie ihn, aber heute platzt Ihnen der Kragen und Sie fahren ihn an. Da hat sich etwas aufgestaut. Spannung ist nicht endlos zu halten, wenn Sie nichts damit tun (siehe auch Spannung).
Im Hier und Jetzt richtet sie sich gegen die, die da sind, also zum Beispiel den Mann aus Syrien. Oder bei einem Ihrer Schützlinge gegen Sie. Eine Kleinigkeit genügt als Anlass. Aber Sie sind nicht gemeint. Denn alte Wut, die hochkocht, richtet sich gegen die Mörder in den Herkunftsländern, gegen die Schlepper, die unklare Situation zuhause, die Ohnmacht im eigenen Inneren... aber nicht gegen Sie. Sie waren damals ja gar nicht dabei, stehen nur jetzt zufällig im Weg, wenn jemand ausrastet. Bitte gehen Sie jetzt nicht auf ihn zu! Leicht könnte die Annäherung als Angriff missdeutet werden.
Auch wenn Wut und Hass jetzt angebracht scheinen, ist eine Unterscheidung wichtig: was gehört hierhin, was kommt aus der alten Situation? Damit jemand nicht mit aller angestauter Wut auf die Beamtin in der Ausländerbehörde reagiert - auch hier findet eine Verwechslung statt, die niemandem hilft.
Was erhöht die Spannung und damit Aggression und Angst?
- Zu nahe zu kommen, wenn wir nicht wissen, ob jemand Übergriffe erlebt hat (gehen Sie einfach davon aus, dass das passiert ist. Wenn Sie näher kommen müssen, dann beruhigen Sie auf verbaler Ebene.)
- Selbst angespannt zu reagieren (oder es nur innerlich zu sein. Kennen Sie die Situationen, in denen Ihr Kind nicht einschlafen wollte, weil es mitbekommen hat, dass Sie unbedingt ausgehen wollten? Konnten Sie im angespannten Zustand schon einmal eine Situation wirklich gut lösen?)
- Beschimpfungen, Beleidigungen, Abwertungen (auch wenn die nur unverständlich oder in den Bart gemurmelt sind, vermittelt sich die Spannung, die innere Haltung)
- Das Gefühl nicht ernst genommen zu werden (dazu gehört auch, dass wir uns mit den gesellschaftlichen und familiären Regeln und Normen unseres Gegenübers vertraut machen. Das heißt nicht, dass wir sie akzeptieren müssen. Verständnis ermöglicht aber einen Austausch darüber, welche dieser Regeln in unserem Wertesystem keine Platz haben.)
Und genau das ist es, was wir angesichts von Aggression vernünftigerweise tun sollten:
- tief durchatmen und einen oder mehrere Schritt zurücktreten, damit Ihr Gegenüber sich ein wenig entspannen kann, sich nicht mehr angegriffen fühlt. Spontane Aggression lässt dann oft nach, weil das Bedrohungserleben des Körpers weniger wird. (Mehr dazu finden Sie in den Tipps unter dem Punkt deeskalieren.)
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Sich selbst und andere in Sicherheit bringen.
- Nicht versuchen, die Situation jetzt zu klären. Im Moment geht es nur um Entspannung des "Häschens" (siehe so funktioniert Verarbeitung). Der Denker ist nicht ansprechbar, solange die Spannung so hoch ist. Reden können Sie aber nur mit dem Denker. Also warten Sie damit bis die Lage wieder entspannt ist!