Angst ist ein Warnsignal, das wir alle kennen: das Herz rast, Schweiß bricht aus, wir zittern, der Atem geht stoßweise, die Verdauung spielt verrückt, der Blick verengt sich, wir wollen nur weg. Angst ist naheliegend, wenn jemand hinter mir her ist, mich oder meine Familie bedroht. Wenn ein Hund die Zähne fletscht, ein Auto auf mich zu steuert oder jemand meine Familie bedroht, kann Angst mich retten, für schnelle Reaktionen sorgen. Angst ist eine instinktive Reaktion, etwas, das auf Säugetierebene dafür sorgen soll, dass wir überleben, indem wir uns ganz klein machen, Schutz suchen, fliehen oder alle Kraft zusammennehmen und zuschlagen.
Wie alle anderen Traumafolgesymptome auch bleibt diese Reaktion aber erhalten, verfliegt nicht einfach über die Zeit. Das wäre viel praktischer: Wenn Sie vergewaltigt werden, haben Sie Angst um Ihr Leben und intensive körperliche Schmerzen. Danach stehen sie auf und alles ist nach ein paar Tagen wieder gut. Klingt eigenartig? Ja, denn so ist es nicht. Wenn jemand nach so einer Erfahrung Zeit hat und Menschen um sich herum, die ihn oder sie umsorgen, sich um Sie kümmern, Ihnen helfen, das Erlebte zu verarbeiten, indem Sie für sich sorgen können, ein wenig sinnvolle Arbeit verrichten und Ihren Liebsten beim Wachsen zusehen können, dann wird die Angst kleiner und der Mut zum Leben wird wieder wachsen.
Wenn nach der einen Vergewaltigung aber gleich die nächste lauert, wenn Flucht und Unsicherheit anstehen, keiner weiß, wie es ausserhalb der Erstunterkunft weitergehen soll, wenn die Gedanken um die Bomben, denen zuhause Eltern und Kinder ausgesetzt sind, ebenso real sind wie die Unsicherheit wieder abgeschoben zu werden oder doch keine Wohnung zu erhalten, wodurch die Angst vor Übergriffen in der Unterkunft beendet würde - wie sollte die alte Angst da zu bearbeiten sein? Wie sollten sie sich nicht alle vermischen zu einem großen, unförmigen Misstrauen?
Nur dann, wenn wir verarbeiten können, was uns passiert ist, sind wir zu neuen Begegnungen wirklich fähig.
Stellen sie sich vor, Sie hätten gerade einen
Familienangehörigen verloren. Es wird Sie dann schlicht überfordern, mit Menschen zu arbeiten, die trauern oder nicht wissen, was mit Ihren Angehörigen passiert. Erst wenn Sie selbst ein Stück weiter sind im Loslassen und Verarbeiten werden Sie die anderen sehen - und dann vielleicht umso besser auch helfen können.
Wie alle Traumafolgesymptome können auch Angst und Panik im
Nachhinein in Situationen auftreten, die wir selbst als ganz sicher bezeichnen. Sie wollen einer Frau aufhelfen und die fängt an zu zittern, zu wimmern und sich wegzudrehen. Sie reagiert nicht auf die momentane
Situation, sondern - ohne das bewußt steuern zu können - auf den Teil der alten
Situation, der noch nicht verarbeitet wurde (vielleicht ist sie geprügelt worden, hat jemand zugetreten, als sie auf dem Boden lag und es ist nur Ihre Körperhaltung, die jetzt die Reaktion auslöst).
Alte Angst sozusagen. Sie können das jetzt nicht herausfinden. Selbst wenn Sie die Sprache der Frau sprächen, wäre sie wohl kaum fähig zu sprechen. Was sie tun können, ist die Situation zu verändern, damit unterbrechen Sie die Reaktionskette: gehen Sie ein paar Schritte zurück, setzen Sie sich auch auf den Boden, drehen Sie sich zur Seite... Es sind oft Kleinigkeiten, die ein Verhaltensmuster unterbrechen. Tun Sie in keinem Fall das weiter, was Sie gerade tun. Und wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann erklären Sie ruhig und ohne Anspannung das, was Sie tun. "Ich helfe Ihnen jetzt nur auf, danach lasse ich Sie wieder allein". Auch wenn die Frau Sie nicht verstehen sollte, wird der Ton ihr ein Stück neue Information geben. (siehe auch deeskalieren)
Aber warum hat jemand Angst vor Ihnen? Vielleicht hat er Übergriffe erlebt, Bedrohungssituationen, Vergewaltigungen, die Tötung von Angehörigen, denen er nicht helfen konnte. Jetzt kommen Sie ihm oder ihr plötzlich zu nahe - vielleicht wollen Sie nur helfen, aber die Situation "erinnert" das Häschen gegenüber an die noch nicht verarbeitete Situation und der Mensch Ihnen gegenüber reagiert panisch - nicht auf Sie, sondern auf die zu nahe Raumsituation. Das passiert auch sehr oft, wenn Menschen auf zu engem Raum mit Fremden untergebracht sind, ist also in Flüchtlingsunterkünften zu erwarten.
Natürlich tragen auch politische Entscheidungen und Verwaltungshandeln das ihre bei. So sind Angst und Sorge angemessen, wenn der Aufenthaltsstatus unklar ist, die Familie nicht nachgeholt werden kann, die Zukunft in den Sternen steht. Und diese aktuelle Angst holt die alte Angst wieder hervor, die noch nicht verarbeitet werden konnte. Ganz normale Automatismen.