Theoretisch könnten wir uns
an vieles erinnern, was uns nach den ersten vier, fünf Lebensjahren widerfahren ist. Auch alle Erfahrungen von vorher sind irgendwo in Gehirn und Körper gespeichert,
aber nicht bewußt abrufbar, oft nur daran erkennbar, dass uns manches vertraut vorkommt und anderes fremd. Und manches taucht auf einmal ganz ungebeten auf, oft dann, wenn wir es am wenigsten erwarten.
Wir können drei Arten von Erinnerung unterscheiden. Die implizite Erinnerung ist in unseren Körper eingeflossen und macht aus, was uns vertraut ist, zeigt sich in unserem Körper und seinen Bewegungen, darin, ob wir andere gerne nah bei uns haben oder Platz brauchen, wie wir Zeit erleben, welche Art von Menschen und Verhalten uns vertraut ist. Es ist das, was den Tausendfüßler in uns laufen lässt. Würden wir jeweils überlegen müssen, wie wir ein Messer halten, die Finger auf die Tastatur setzen oder die Schuhe zubinden, so kämen wir zu nichts anderem mehr. Kinder brauchen aber lange Zeit, um krabbeln und laufen zu lernen, Formen und Farben zu unterscheiden, Fremdsprachen oder tanzen zu lernen.
Die explizite Erinnerung ist das, was wir aufrufen können als Gewusstes, das überschneidet sich mit der impliziten Erinnerung, ist aber ein anderer Vorgang. Wenn ich jemandem erklären will, was Guten Tag heißt, so ist das einfach. Möchte ich den Unterschied zwischen "allein" und "einsam" im Deutschen beschreiben, wird es schon schwieriger, falls diese Unterscheidung in der anderen Sprache nicht gemacht wird. Und wenn ich versuche, jemandem die deutsche Grammatik zu erklären, dann stoßen die meisten an die Grenzen - denn das wissen wir ganz einfach, wissen aber nicht, wie es sich herleiten lässt. Eine explizite Erinnerung ist es auch, wenn Sie sich kurz zurückziehen und sich vor Augen rufen, wie gut Sie sich am Wochenende beim Spaziergang mit Ihrer Freundin gefühlt haben und dieses Gefühl so wieder in Ihre Muskeln einladen, bis Ihr Herzschlag sich beruhigt und Sie genug Kraft gesammelt haben um wieder zurück in die Alltagssituation zu gehen.
Die dritte Art der Erinnerung ist der Flash-Back. So nennt man in der Arbeit mit Traumafolgen die plötzlich und völlig unkontrolliert auftretenden Erinnerungen oder Verhaltensmuster aus der unverarbeiteten Situation. Da rastet jemand aus, nur weil Sie im die Hand auf die Schulter gelegt haben. Ein Kind fängt an zu weinen, weil sie es ansprechen. Ihr Gegenüber bekommt einen starren Blick, als Sie nach der Fluchtgeschichte fragen, Sie erreichen ihn oder sie nicht mehr. Wenn Sie später die Sprachmittlerin fragen, sagt sie Ihnen vielleicht, er hätte wieder die Leichen gesehen. Genau davon hätte er aber doch erzählen sollen, das wäre doch wichtig gewesen! Aber genau das geht meist nicht: Ihr Gegenüber ist nur scheinbar mit Ihnen im selben Raum, seine gesamte Wahrnehmung ist in der alten Situation. Dort gab es keine Sprache angesichts des Grauens, und genau das ist auch Teil des Flash-Back. Erklärende, beschreibende Sprache ist ein Teil der Großhirnrindenaktivität, die im traumatischen Erleben blockiert wird. Und im Flash-Back ist das dann genauso.
Ein Erzählen ist erst dann möglich, wenn das Grauen zumindest ein Stück weit auf Abstand gehalten werden kann. Manche Menschen schaffen das, indem Denker und Häschen immer wieder getrennt werden, sobald etwas an das Erleben erinnert. Das Gefühl wird (unbewusst und ganz ohne Zutun!) völlig ausgeblendet - weil ein erneutes Erleben des Gefühls zu furchtbar wäre. Das ist kein bewußter Akt, sondern ein automatischer Schutzmechanismus. Das klingt dann oft so emotionslos, dass die Erzählung unglaubwürdig scheint. Kennen Sie das nicht auch? Wenn Sie über etwas erzählen sollen, was Sie sehr hart getroffen hat, so geht das kaum. Weil Sie fürchten davongespült zu werden. Oder Sie erzählen davon in einer Art, die Sie auch selbst völlig unpassend finden: machen Scherze oder wischen das Erlebte weg.
Es ist deshalb auch wenig ratsam, zu versuchen, die Menschen "ins Gefühl kommen zu lassen". Das geht irgendwann im Laufe der Jahre, aber ohne Sicherheit im Innen und Außen ist das schnell ein erneuter Akt der Gewalt.
Unsere Körper ertragen nur ein gewisses Quantum an Schmerz, Verlust und Gewalt. Vieles andere überleben wir, aber der kontrollierte Zugang zu den Erinnerungen bleibt uns verwehrt. In den Momenten, wo das Alte sich aufdrängt, wissen wir warum. Es wäre einfach zu viel, wir könnten und wollten so nicht weiterleben.
Flash-Backs sind also das genaue Gegenteil einer expliziten Erinnerung. Es können Bilder sein, die sich aufdrängen, Einspielungen dessen, was wir gehört haben (Schreie, Schüsse, Bombardierungen...), Geschmack und Geruch sind auf einmal von altem Erleben überdeckt. Und vor allem reagiert unser Körper: mit Schmerzen, Empfindungslosigkeit, Herzrasen, Panik... Auslöser für Flash-Backs sind immer dort besonders wirksam, wo Stress herrscht und die Aufmerksamkeit auf Bereiche gerichtet wird, die ohnehin vermint sind. Das enge Miteinander fremder Menschen in der Notunterkunft, der gefährliche Weg zu den Toiletten, die Nachfragen nach dem Fluchtgrund...
Erinnerungslücken sind die letzte Möglichkeit unseres Gehirns, uns vor Überflutung zu schützen und das Funktionieren zu gewährleisten. Wenn das Erleben zu heftig war, zu schmerzhaft, zu überwältigend, dann schützt uns unser Gehirn manchmal dadurch, dass es Erinnerung unmöglich macht. Dann kann ich mich nicht erinnern, selbst wenn ich es möchte. Dafür überfällt mich das Erlebte manchmal unerwartet aus dem Nichts.
Auch Gedächtnislücken kennen wir alle. Was im Moment des Fahrradunfalls und in den Minuten danach passiert ist, weiß man hinterher oft nicht. Die Erinnerung kommt im Lauf der Zeit wieder, wenn genügend innere und äußere Sicherheit das erlaubt, manchmal bleibt sie für immer verschollen.
Für Kriegserlebnisse, Vergewaltigungen, Verfolgung und Vertreibung auf der Flucht gilt
das umso mehr. Hier ist eher davon auszugehen, dass die Erinnerungen gestört und widersprüchlich sind,
die Abläufe sich erst im Lauf der Zeit klären, Gefühle und Körpererleben nicht oder nur zum Teil abrufbar sind. Asyl-, Gerichtsverfahren und Bleiberechtsverhandlungen jeder
Art müssten sich auf diese Erkenntnisse einstellen, sind aber in ihrer Anlage völlig anders orientiert. Manchmal hilft es, wenn Sie die Erkenntnisse der Traumaforschung anführen, falls die Betroffene nicht sagen kann, was genau passiert ist. (mehr finden Sie unter weiterlesen)